Kanzeltausch & Wertewandel

von Caroline Springer-Lacher

„Was war das einmal?“ Er steht erschrocken? ehrfürchtig? verwirrt in der offenen Türe. „Ein Museum?“ Meine Hand zieht ihn rückwärts und weist den Weg nach unten in die Jugendräume. Frech, denke ich. Erst im Gemeindehaus rumschnüffeln und dann so ein Kommentar. Der Saal ist mit Liebe und Geld ausgebaut worden – vor Jahrzehnten. Die überflüssigen Stühle an der Seite in Sechserstapeln sorgfältig aneinandergereiht. Die Krankenliege versprüht wirklich musealen Charme. Aber bestimmt wurde sie irgendwann mal gebraucht. Der blasse Webteppich an der Wand mit seinen 2,5 auf 3 Metern gilt als Kunst und wurde gestiftet. Ältere Glieder erinnern sich noch. Den Riss im Boden kann der Junge kaum bemerkt haben, obwohl er sich durch den halben Raum zieht. Die Reparatur ist unmöglich. Man müsste alles komplett erneuern. Die bräunlichen Fließen sind schmutzunempfindlich, was das Optische angeht. Gott sei Dank, denn den Putzdienst von früher gibt es nicht mehr.

Wir haben uns daran gewöhnt. Vorne Blumenschmuck, Kerzen, offene Bibel. Das reicht. Gottes Wort erreicht uns doch. Wirklich? Stumpfen lieblos gestaltete Foyers nicht ab? Bilden Stapel ungelesener Papierflyer nicht unüberwindbare Hindernisse für moderne Menschen? Imprägniert eine zeitlose Geschmacklosigkeit nicht auch die Herzen? Wie ansteckend ist eine Egal-Haltung? Dabei sind unsere Häuser und Räume wertvolle Ressourcen.

Der größte Raum für den Gottesdienst. So sind viele unserer Kirchen und Kapellen konzipiert. Nutzung drei-, viermal im Monat, für gut zwei Stunden. Hören wir den Schmerz der Wände und Decken? Es braucht einen Wertewandel. Sie sind gebaut, um Menschen in der Liebe Gottes zu bergen. „Unter einem Dach“ – was könnte da Gutes an Zusammenfinden passieren?

Unsere Häuser sind keine Gotteshäuser. Sie wollen Gemeindeleben unterstützen. Gott segnet den Alltag. Eine Gemeinde lebt, wenn sie Zeiten und Orte schafft, Gott zu begegnen. Wenn sie respektvolle Gemeinschaft fördert, wenn sie dankbar wahrnimmt und ein Teilen fördert, wenn sie sich mit Hand und Fuß und Verstand hilfreich in die Gesellschaft einmischt. Die Schöpfung stöhnt. Das Leben muss gemeistert werden. Spielen, Fragen, Hören, Feiern, Weinen und so viel mehr braucht Platz. Und unsere Zuwendung. Diese Aufgaben fallen die Woche über an, Sonn- und Werktags.  

Tapetenwechsel? Manch ein Raum hat noch nie eine Tapete gesehen. Ein gräuliches Kolorit schafft Augenwüsten, die einzig durch einen Lichtschalter oder Heizungsregler unterbrochen werden. Ins Untergeschoss mit Oberlicht schiebt man auch gerne mal eine Art Theke, selbstgezimmert, „für die Jugend.“ Leere Getränkekisten bilden Farbinseln genau wie die Handabdrücke der Sonntagschulkinder auf dem einst roten Farbkarton, der sich mit drei Reißnägeln noch leidlich am Rauputz hält.

Tapetenwechsel. Runter mit einer antrainierten Nüchternheit, die geräusch- und regungsloses Zuhören einer Predigt zum Höhepunkt der Woche stilisiert. Runter mit aufgeklebten Besitzansprüchen: „Unser Gemeindehaus!“ Das Haus der Gemeinde gehört allen, weil wir alle alles von dem Einen geschenkt bekommen. Wir sind bestenfalls Verwalter. Runter mit jedem Anflug von Scheinheiligkeit, als wären wir „Kirchgänger“ etwas Besseres, als hätten wir exklusiv den Heiligen selbst bei uns wohnen, wie man schon immer einen Untermieter im Keller hat. Gott wohnt gern bei der Alleinerziehenden, die sich fühlt, als würde ihr die Erziehung entgleiten. Er sitzt am Tisch der Einsamen. Er lebt im Flüchtlingszelt. Er sucht Centstücke zusammen, für’s Brot am Monatsende. Er zieht die Brauen hoch beim Blick in den Timer des Vielbeschäftigten, der sich fast selbst verliert.

Die neuen Tapeten bergen. Sie atmen vorbehaltlose Wertschätzung. „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ Die Räume sind Ausdruck einer Haltung. Liebe geschieht im Einrichten. Auch WLAN kann Nähe schaffen. Die Einrichtung richtet nicht zwischen Gast und Gastgeber. Sie suggeriert nicht Fremdsein, sondern Heimat: Hier darf ich sein. Ich bin willkommen.

Die neuen Tapeten inspirieren. Ein bloßes Verzwecken ist unmöglich. Aufgestapelte Stühle sind praktisch - praktisch eine Ausladung an den Benimm, Geschmack und die Gastfreundschaft. Wer hat an seinem privaten Wohlfühlort einen Stapel Stühle stehen? Auch das Zerfleddern der Räume durch abgestellte oder zufällig aufgehängte Dinge, Bilder oder Erinnerungen wird durch ein Thema, eine Bewegung, einen sichtbar gemachten Seelenprozess ersetzt. Das Herz geht auf! Solche Öffnungen, vielleicht zum „Himmel“, vielleicht zum Nachbar/Nächsten, schaffen nicht nur die baulichen Fenster. Bildung durch Bilder. Der Mensch lernt von außen nach innen. Möbel machen mobil. Sie helfen in eine gute Bewegung hinein. Einen Raum lesen, seinen Wert, seine Bestimmung entdecken, kostet Energie. Man ist damit nie fertig. Die neue Tapete zeigt, wie kostbar gebildete Lebensräume sind.

Praktisch! In jeder Gemeinde, jeder Gruppe und besonders an ihren Rändern gibt es Menschen mit Freude an Form und Farbe. Zwei, drei tun sich zusammen, entwickeln Raumgefühl und Ideen zur Gestaltung. Mal „probehalber“ für ein halbes Jahr oder ein ganzes. Sie denken von den Menschen her, die diesen Raum mit Leben füllen können. Der Gemeindevorstand bestimmt nicht Ja oder Nein. Er fragt, wie können wir unterstützen? Was braucht ihr von uns? Dann einfach machen.

Was kommt heraus? Die Kinder lieben es sich in der Kanzel zu verstecken. Also Kanzeltausch! Sie wechselt ihren Platz, ihre Zielgruppe und Bestimmung und prägt den Kinderspielbereich im „Gottesdienstsaal“. Der neue Predigtplatz bekommt Stelzen, zwei Fenster, ein Segel. Auch mal eine Rutschbahn. Kinder entern das Schiff, gehen auf Lebensfahrt, verkaufen Spieleis, verschenken Lebensfreude. Eine Predigt im Glucksen und Kichern. Fantasie und Leichtigkeit für alle Erwachsenen am Festland der Verbindlichkeiten. Doch auch ihnen wird Ablegen leicht gemacht: Die Mäntel an einer hübschen Garderobe – nicht von der Stange. Die Alltagssorgen beim Gespräch bei duftendem Kaffee oder dem Sektglas mit Goldstiel. Caféatmosphäre und Gottesdienst? Wenige tun sich schwer. Vielen hilft eine stilvolle Undichte, Himmlisches und Irdisches alltagsrelevant zu verbinden.

Zeichen setzen: Die EmK-Metzingen nennen viele Kletterkirche. Es gibt noch eine Trampolinkirche und s’Lädle. Duftspuren legen: Dienstag gibt’s Waffeln. Donnerstag ist Pommes-Tag, Samstag Frühstücksbuffet mit Theater, Café Duft öffnet am Sonntag. Die Sinne machen Sinn. Sie sind Gottesgeschenke und nutzen sich durch täglichen Gebrauch nicht ab. Werte wandeln: In einer Gesellschafft, die von Geld und Gier bedroht ist, Gastfreundschaft leben. Und Gnade.

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Verfasser:in: Caroline Springer-Lacher

Ist Gemeindereferentin auf dem Bezirk Achalm.


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