Alles eine Frage der Perspektive

von Klaus Schmiegel

In meiner Vorbereitungszeit für unseren Missionseinsatz als Familie in Malawi habe ich den Theologen Anthony G. Reddie (black theologian) und sein Buch „Is God colour-blind?“1 in Birmingham kennen und schätzen gelernt. Auf ihn werde ich mich bei der Interpretation des folgenden biblischen Textes beziehen.

Bei Black Theology geht es allgemein um eine Neuinterpretierung der Bedeutung Gottes, wie er sich in Jesus Christus offenbart hat und eine Neuinterpretierung von biblischen Texten, und zwar aus der Perspektive der Lebenserfahrungen von People of Color, aus ihrer Unterdrückungssituation heraus und auf dem Hintergrund ihrer Lebensverhältnisse.

Ausgangspunkt ist die Realität, eine Person of Color zu sein, die in einer von Weißen dominierten Welt lebt. Von dieser Warte aus wird die Bibel neu gelesen und interpretiert.

Aus dieser Perspektive heraus möchte ich mit Euch ein gut bekanntes Gleichnis anschauen: Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten nach Matthäus 25,14-30 (Basisbibel):

14 »Es ist wie bei einem Mann, der verreisen wollte. Vorher rief er seine Diener zusammen und vertraute ihnen seinVermögen an.15Dem einen gab er fünf Talente, einem anderen zwei Talente und dem dritten ein Talent –jedem nachseinen Fähigkeiten. Dann reiste der Mann ab.16Der Diener mit den fünf Talenten fing sofort an, mit dem Geld zuwirtschaften. Dadurch gewann er noch einmal fünf Talente dazu.17Genauso machte es der mitten zwei Talenten. Ergewann noch einmal zwei Talente dazu.18Aber der Diener mit dem einen Talent ging weg und grub ein Loch in die Erde.Dort versteckte er das Geld seines Herrn.

19Nach langer Zeit kam der Herr der drei Diener zurück und wollte mit ihnen abrechnen. 20Zuerst kam der Diener, derfünf Talente bekommen hatte. Er brachte die zusätzlichen fünf Talente mit und sagte: ›Herr, fünf Talente hast du mirgegeben. Sieh nur, ich habe noch einmal fünf dazugewonnen.‹ 21Sein Herr sagte zu ihm: ‘Gut gemacht! Du bist eintüchtiger und treuer Diener. Du hast dich bei dem Wenigen als zuverlässig erwiesen. Darum werde ich dir vielanvertrauen. Komm herein! Du sollst beim Freudenfest deines Herrndabei sein!‹ 22Dann kam der Diener, der zweiTalente bekommen hatte. Er sagte: ›Herr, zwei Talente hast du mir gegeben. Sieh doch, ich habe noch einmal zweidazugewonnen.‹ 23Da sagte sein Herr zu ihm: ›Gutgemacht! Du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du hast dich beidem Wenigen als zuverlässig erwiesen. Darum werde ich dir viel anvertrauen. Komm herein! Du sollst beim Freudenfestdeines Herrn dabei sein.‹

24Zum Schluss kam auch der Diener, der ein Talent bekommen hatte, und sagte: ›Herr, ich wusste, dass dein harter Mannist. Du erntest, wo du nicht gesät hast, und du sammelst ein, wo du nichts ausgeteilthast.25Deshalb hatte ich Angst. Alsoging ich mit dem Geld weg und versteckte dein Talent in der Erde. Sieh doch, hier hast du dein Geld zurück!‹ 26Sein Herrantwortete: ›Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du wusstest, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, undeinsammle, wo ich nichts ausgeteilt habe.27Dannhättest du mein Geld zur Bank bringen sollen. So hätte ich es bei meinerRückkehr wenigstens mit Zinsenzurückbekommen.28Nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat!

1 Anthony G. Reddie: Is God colour-blind? Insights from Black Theology for Christian Ministry. London 2009

29Denn wer etwas hat, dem wird noch viel mehr gegeben –er bekommt mehr als genug. Doch wer nichts hat, dem wirdauch das noch weggenommen, was er hat.30Werft diesen nichtsnutzigen Diener hinaus in die Finsternis. Dort gibt es nurHeulen und Zähneklappern!‹«

Ein sehr bekanntes Gleichnis, über das jeder und jede von uns schon mal eine Predigt gehört oder auch gehalten hat, bei der u.U. folgende Botschaften eine Rolle spielten:

-       „Gott als Herr im Gleichnis fordert Rechenschaft“

-       „Sei so wie der erste Diener, oder wenigstens wie der zweite; sei auf alle Fälle fleißig“

-       „Vermeide es der dritte Diener zu sein“

-       „Bring dich ein in das Reich Gottes, auch wenn dir wenig anvertraut wurde.“

Diese Interpretation fällt bei uns in Süddeutschland in Kombination mit protestantischer Arbeitsethik und schwäbischer Mentalität auf fruchtbaren Boden. Oder anders ausgedrückt: Genau wegen der Arbeitsethik und Mentalität gibt es diese Interpretation bei uns.

Anthony G. Reddie nimmt bei diesem Bibeltext eine ganz andere Perspektive ein. Und er weist auf, dass dieses Gleichnis kein Gleichnis über das Reich Gottes ist. Es ist als Anti- Gleichnis zu verstehen. Aber der Reihe nach.

Die ersten beiden Diener

Versucht euch mal in die ersten beiden Diener, im Griechischen sind es Sklaven, hineinzuversetzen. Du bekommst ein Menge Geld, und du schaffst es, die gleiche Menge anzuhäufen. Frage: Warum tust du, was du tust? Beim drüber nachdenken kommt ihr wahrscheinlich auf verschiedene Gründe:

-       Aussicht auf Belohnung

-       Du willst gefallen

-       Furcht als Motiv, du ahnst mögliche Konsequenzen (es gibt ein klares oben und unten)

-       Taktische Gründe: wenn du dich erwartungsgemäß im System verhältst, springt noch mehr für dich raus.

-       Wenn du dich in den zweiten Diener hineinversetzt, kommt vielleicht noch das Gefühl von Ungerechtigkeit dazu (es gibt Favoriten im System). Das nächste Mal wird dir vielleicht mehranvertraut, also hängst du dich noch mehr rein.

Frage: Liebst du deinen Herrn? Ich nehme mal an, deine Antwort ist eher „nein“. Da mag Respekt sein, Furcht, vielleicht Angst, aber Liebe? Er ist dein Meister, dein Herr.

Der dritte Diener

Versetzt euch in ihn hinein! Warum tust du, was du tust?

Du verhältst dich ganz anders als die anderen Diener. Du machst deinen Herrn nicht reicher. Du gräbst einlocht und steckst das Geld rein. Warum tust du das? Warum bist du so faul und ungezogen?

Was du weißt, ist, dass dein Herr eine fordernde und selbstsüchtige Person ist. Er hält von dir weniger. Dahältst ihm den Spiegel vor. Dein Herr ist ein harter, schroffer Mann, er nimmt das, was ihm nicht gehört und nimmt Profit von anderen. Du hast ihn nicht betrogen. Du gibst ihm einfach das zurück, was er dir gegeben hat. Aber der Herr will mehr, das System will mehr. Du bist es leid, von ihm ausgenutzt zu werden. Du sagst: Jetzt ist Schluss. Du bietest ihm die Stirn. Du bist derjenige, der in den Widerstand geht. Du bist der Mutige. Du entscheidest dich zu rebellieren.

Der Herr

Das bringt uns zur wichtigsten Frage: Steht der Herr im Gleichnis überhaupt für Gott? Und steht dieses Setup im Gleichnis überhaupt für das Reich Gottes? Im Text selbst wird dieser Vergleich gar nicht gezogen. Der weitezeitgeschichtliche Rahmen, in dem diese Geschichte steht, ist der des Kolonialismus. Judäa war eine Kolonie im Römischen Reich. Dabei geht es auch um wirtschaftliche Ausbeutung.

Wenn wir annehmen, dass Gott in diesem Gleichnis gar nicht vorkommt, dann ist dieses Gleichnis eine Metapher dafür, wie diese Welt funktioniert und wie sich Unterdrückte darin arrangieren: Entweder du verhältst dich systemgemäß und versuchst das Beste aus den Bedingungen zu machen oder du rebellierst, du lehnst dich bewusst dagegen auf.

Fazit

Die beschriebene Situation im Gleichnis von den Talenten spricht in die real existierende Situation von unterdrückten Menschen, die sich in einem ausbeuterischen System zurechtfinden müssen. Zu allen Zeiten, zu allen Orten.

Hier versucht Black Theologe, die Bibel anders zu lesen, eben mit diesem Blick. Und dabei kommt sie für uns zu ganz anderen Sichtweisen, die unsere westliche Sicht auf den Kopf stellt.

Die Antwort auf die Frage „Wird in Mt 25,14-30 das Himmelreich beschrieben?“ heißt

„Nein“.

Wenn so das Himmelreich sein sollte („Denn wer etwas hat, dem wir noch viel mehr gegeben er bekommt mehr alsgenug. Doch wer nichts hat, dem wird auch das noch weggenommen werden, was er hat.“ V.29), dann braucht es der größte Teil der Menschheit nicht, die erleben das im Hier und Jetzt.

Demnach ist der Held der Geschichte der dritte Diener, nicht die ersten beiden. Und der Bösewicht ist der Herr, der Meister, der geschickt das System für sich und seine Belange ausnutzt.

 

 

Verfasser:in Klaus Schmiegel

Pastor der EmK und Leiter des Kinder- und Jugendwerks Süd | Systemischer Coach i.W.

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